Liebe Freunde unseres Blogs
Wir posten hier noch unseren Text, der als Einstiegsgedanken zum Podiumsgespräch des Kongresses vorgelesen wurde. Er ist geschrieben von Christian Kaspar und Jaime Garcia vom Redaktionsteam. Am Kongress wurde eine gekürzte Version vorgelesen. Wir posten hier die lange Version.
Hallo liebe Freunde der knappen Worte und langsamen Kommunikation! Wir sind Christian Kaspar und Jaime Garcia und dürfen hier die Einstiegs-Gedanken für das Podium schreiben.
Wir sind beide im Autismus-Spektrum, und zwar in dem Teil, den die Diagnostik ‘low functioning’ nennt. Das ist aber nicht die wirkliche Behinderung. Behinderung entsteht vor allem durch die Interaktion mit der Gesellschaft, wie sie bei uns organisiert ist. Unsere Gehirne sind halt so ein wenig untypisch gewachsen. In einer anderen Art von Alltagsnormalität wären wir vielleicht die totalen Überflieger.
Wir haben Körper, die sich zwar gut bewegen können und auch Dinge tun, aber nur selten das ausführen, was wir gerade wollen. Das ist verbunden mit Zwängen und Tics. Auch Lautsprache geht nicht.
Zum Schreiben dieser Sätze benutzten wir eine Tastatur mit Wortvorhersage Da tippen wir mit einem Finger. Das ist sehr langsam. Und wir brauchen Assistenz, weil wir unseren Fokus nicht lange halten können und uns unsere Tics dazwischenkommen. Dafür können wir aber alles zum Sprechen nutzen, was man antippen und als sprachliche Zeichen nutzen kann. Auch cool.
Wir erleben überall da in der Gesellschaft und in unserer Einrichtung Barrieren, wo man mit dem Körper zu einem bestimmten Zeitpunkt oder auf eine bestimmte Weise handeln oder sich verhalten muss. Also ziemlich überall. Die Gesellschaft, ihre Dinge, Institutionen und Interaktionen sind nicht für Leute wie uns konstruiert.
Am schlimmsten sind die Barrieren in den Köpfen der Uneingeschränkten, die denken, ihr Normal müsse der Massstab für alle sein. Ein Beispiel? Von Lautsprechern wird oft die physische Interaktion face-to-face, so wie hier in diesem Raum gerade, als die beste, wertvollste Art menschlicher Interaktion angesehen. Bei den Corona-Massnahmen damals sagten dann viele, dass durch die nur virtuellen Treffen viel vom echten sozialen Kontakt verloren ging. Sie vermissten Hände Schütteln und Zusammensitzen und so.
Wir überhaupt nicht. Virtuell ist es für uns viel stressfreier. Wir müssen nicht körperlich irgendwohin und uns den erwarteten oder physisch notwendigen Verhaltensweisen unterziehen, die für uns oft nur schwer oder gar nicht machbar sind. Gehen wir noch einen Schritt weiter. Wir können uns funktionierende Inklusion und Gleichstellung für uns und Menschen unserer Ausgangslage im Moment nur virtuell vorstellen. Virtuelle Räume sehen wir als Chance. Denn sobald die Menschen, die Normalen, uns live sehen, lassen sie sich in ihrem Denken und Handeln behindern.
Das gilt auch für viele Betreuungspersonen in den Einrichtungen und für Heimleitungen mit ihrem Normalisierungsprinzip. Die Existenzberechtigung der heutigen Behinderteneinrichtungen und die Art der Ausbildung von Betreuungspersonen beruhen ja in grossen Teilen darauf, dass die Normalen es ‘besser wissen’. Wir werden auf unser für sie defizitäres Verhalten oder unsere Diagnose reduziert. Das schränkt die Interaktion in unserer Erfahrung schon echt ein.
Anders sähe es aus, wenn die UN-BRK endlich wirklich umgesetzt würde. Mit Niederflurtrams und einem theoretischen Recht auf angemessene Bildung ist es nicht getan. Schon gar nicht jetzt, wo gewisse Politiker wieder schreien, die Integration sei gescheitert und separative Schulen fordern. Vor allem wenn uns fälschlicherweise schulische Lernfähigkeit abgesprochen wird, und ‘angemessene Bildung’ für uns dann heisst, Schuhe binden und Klötze sortieren zu lernen.
Dabei können wir sehr gut denken und schulisch lernen. Aber versuch mal, das den sogenannten Fachleuten klarzumachen, wenn du nicht sprechen kannst und niemand da ist, der mit dir differenziert UK-Kommunikation aufbaut. Denn was heute noch in vielen Schulen und Einrichtungen als UK verkauft wird, ist reiner Etikettenschwindel. Dabei steht das Recht auf UK auch in der UN-BRK. Da steht überhaupt viel Tolles für die Gleichstellung drin.
Heute wird zwar mehr über Behinderungen gesprochen, und Dinge wie das persönliche Assistenzbudget und Subjektfinanzierung gehen in die richtige Richtung.
Aber es ist alles noch zu kompliziert und hängt vom Goodwill und der Kompetenz irgendwelcher Leute in irgendwelchen Amtsstellen ab. Und was nützt uns Subjektfinanzierung, wenn nicht das an Dienstleistungen angeboten wird, was wir brauchen und wenn die Haltung bei vielen immer noch ‘Betreuung’ und nicht ‘Assistenz’ ist.
Wenn wir bestimmen könnten, würden wir Folgendes sofort umsetzen: Persönliches Budget für alle Menschen mit Behinderungen, auch die mit dem Label kognitive Behinderung; und Wohnheime und Ateliers für Behinderte, wie sie jetzt sind, abschaffen.
Die Heime haben im Moment viel zu viel Macht praktisch zu bestimmen, was wir brauchen sollen, wie leben, was arbeiten. Bestimmt von unbehinderten neurotypischen Fachleuten. Wir sind nicht Kunden sondern Bittsteller, das muss endlich aufhören. Nur wenige Menschen, die eine Wahl haben, wollen im Heim leben; die Behinderten genauso wenig wie die Alten. Alle wollen wir selbstbestimmt im eigenen zuhause wohnen.
In Einrichtungen wird das meiste für uns entschieden: Von den Fachleuten, den Betreuenden, der, Heimleitung, der IV. Unter anderem auch deshalb, weil uns keine wirkliche eigene Stimme und damit Mitsprache ermöglicht wird im Alltag. Ist natürlich einfacher zu sagen, jemand ist glücklich im Heim, wenn dieser Jemand nichts dazu sagen kann. Einfach das Mikrofon abstellen, schon ist Ruhe. Stellt euch mal die Frage, welche Entscheidungen wurden und werden nicht von anderen für uns getroffen, die glauben, sie tun uns damit etwas Gutes, weil sie glauben, sie können besser denken und wissen es deshalb besser. Oder sie glauben, sie dürfen für uns entscheiden, weil wir im Alltag Hilfe brauchen oder keine bezahlte Arbeit haben.
Wir wollen nicht undankbar sein. Wir dürfen schon einiges selbst entscheiden: den Brotaufstrich zum Beispiel oder ob wir lieber vor oder nach dem Frühstück duschen wollen. Es lebe die Selbstbestimmung.
Wir zwei wünschen uns nichts Grossartiges, keinen Luxus. Nur mit anderen in einer Schreib-WG zu leben, täglich an unserer Plattform, unseren Texten und unseren anti-ableistischen und pro-Inklusionsinhalten zu arbeiten und davon leben zu können. Dazu Weiterbildung im Bereich Journalismus, Zusammenarbeit mit anderen Behindertenaktivisten und sonst wie Benachteiligten.
Das ist nämlich die Zukunft: Von Behinderten für Behinderte zum Nutzen aller.
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